Die Firmenfahrzeuge in Rot und Weiß, auf denen groß der Namenszug Blanche steht, zeigen mir, dass ich mitten im Gewerbegebiet von Hünfelden auf dem richtigen Weg bin. „Unsere Hausnummer war früher eine andere, das findet man im Navi nicht“, erklärt Annette Blanche mir später. Mit ihrer Steuerkanzlei Blanche bietet sie seit über 15 Jahren ihren Klienten Orientierung im Dschungel der Steuerverordnungen, berät und begleitet Unternehmen zu gesundem Wachstum. Wir sitzen neben dem großen Bürogebäude im neuen Anbau für Seminare.

Annette Blanche ist dezent geschminkt, die rotbraune Brille harmoniert perfekt mit ihren kurzen braunen Haaren. Der erste Eindruck: entspannt, natürlich, freundlich, offen. „Du warst schon bei Annette Lipfert, habe ich gesehen, tolle Geschichte. Ich zeig dir mal meine letzten 15 Jahre, wir hatten im vergangenen Jahr ein Kanzleifest zum Jubiläum. Das sind wir“, beginnt sie und legt mir einen Prospekt vor. 2004 startete sie ihre Selbstständigkeit aus dem Angestelltenverhältnis heraus mit einem Mitarbeiter. Von drei anfänglichen Gründungsmandaten, die sie vom kleinen Homeoffice aus betreute und heute noch begleitet, steigerte sich die Zahl ihrer Klienten schnell auf 20, dann 50, heute wird sie von 20 Mitarbeitern für ca. 400  Mandate unterstützt. 2009 mietete sie das erste Büro, zog dann mit der Kanzlei nach Wiesbaden. „Ich bin im Wiesbadener Raum so gewachsen, dass ich dort nicht mehr wegkann.“ Der Standort in Hünfelden, in der Nähe ihres Wohnorts, kam 2016 dazu, als die Räume in Wiesbaden durch die wachsende Zahl der Mitarbeiter zu eng und zu klein wurden. „Mein Mann ist Bauingenieur und plant und zeichnet gerne Häuser. Wir haben das Grundstück hier gefunden, das Bürogebäude gebaut und sind mit dem größten Teil der Mitarbeiter hier eingezogen. Auf 400 Quadratmetern Bürofläche können wir uns ganz gut ausleben“, schmunzelt sie.

Die Schwerpunkte ihrer Kanzlei liegen auf diversen Fachberatungen: für Heilberufe, Bau und Handwerk, Unternehmensnachfolge, Testamentsvollstreckung und ganz aktuell für E-Commerce. „Meine Tochter Vanessa aus erster Ehe hat mich schon, seit sie 14, 15 war, in der Buchhaltung unterstützt. Sie arbeitet auch hier, hat Wirtschafts- und Steuerrecht studiert und möchte jetzt in die Beraterprüfung gehen. Eine schwere Prüfung, für die man zum Lernen am besten in Klausur geht. Sicher wird sie später mal alles übernehmen wollen, mein Schwiegersohn ist auch Steuerberater. Wir müssen aufpassen, dass wir beim Abendessen auch mal über etwas anderes reden“, scherzt sie fröhlich und erzählt, dass sie die jüngste Schwester aus einem Drei-Mädel-Haus ist.

Als ich frage, ob ihre Schwestern auch Steuerberaterinnen geworden sind, setzt sie sich wieder, lässt den Blick aus dem Fenster schweifen und fährt nachdenklich fort: „Vielleicht passt das jetzt ganz gut. Das ist ein Thema aus der Kindheit. Meine Kindheit war wunderschön. Ich bin auf einem großen Bauernhof aufgewachsen, mit meinem Vater auf die Jagd gegangen, wir hatten sehr viele Feriengäste und Veranstaltungen, Tanz in den Mai, Karambolage-Rennen – es war immer Leben auf dem Hof. Als ich zehn Jahre alt war, am 3. November 1976, fand ich meinen Vater tot im Wald auf. Wir haben ihn mit mehreren Personen gesucht, weil er merkwürdig lang unterwegs war. Er hatte wohl einen dritten Herzinfarkt. Ein einschneidendes Erlebnis, das prägt. Das war das Ende meiner Kindheit.“ Sie sieht mich eindringlich an, schweigt. Der Schock von damals spiegelt sich in der Erinnerung auf ihren Gesichtszügen. Plötzlich stand ihre Mutter mit drei Kindern, 10, 14, 16 Jahre alt, alleine da. Der große Gutshof ihrer Eltern mit 55 Hektar Land, großem Waldstück, großer Landwirtschaft, vielen Tieren, einer Ferienpension und Gastwirtschaft sowie eigener Bier- und Kornbrauerei bedeutete enorm viel Arbeit, alle mussten mithelfen. „Wir haben gearbeitet wie verrückt. Meine älteste Schwester war draußen auf dem Feld, die mittlere hat in der Hauswirtschaft geholfen, ich hab von Anfang an meiner Mutter bei Zahlen und Abrechnungen zur Seite gestanden. Von 1976 bis 1983 haben wir den Hof weitergeführt, ein hartes Geschäft. Während Mitschüler auf Ferienfreizeit gingen oder ein Musikinstrument lernen durften, hieß es für uns immer: Pflichten erfüllen“, erinnert sie sich.

1983 konnten sie den Hof Schauferts gut übergeben und an zwei Schwestern verkaufen, die biologisch wirtschaften und neben der Gaststätte wieder eine Brauerei betreiben. Kurz darauf zog Annette mit 17 Jahren aus und machte eine Ausbildung zur Drogistin. „Ich musste das machen. Da gab es keine Diskussion. Nichtsdestotrotz ist es ein schöner Beruf, sich mit Gesundheit, Heilpflanzen und guter Ernährung zu beschäftigen, aber ich dachte immer: Das kann es doch nicht gewesen sein.“ Auf dem zweiten Bildungsweg absolvierte sie Ausbildungen zum Finanz-, Bilanz- und Lohnbuchhalter, Steuerberater und zu vier Fachberatern. Annette wurde mit 23 Mutter, baute 1994 ihr erstes und 2002 ihr zweites Haus. „Dann die große Steuerkanzlei, jetzt bauen wir gerade wieder eins, um uns zu verkleinern, wenn unser Sohn nach dem Abitur auszieht.“ Sie lacht fröhlich. Die Zeit der materiellen Sorgen hat sie längst hinter sich gelassen.

Annettes älteste Schwester leitet heute eine Krankenhausküche, die mittlere führt den Haushalt der Pfarrerin, Annette blieb ihrem Talent für Zahlen treu. „Steuerberatung ist überhaupt nicht langweilig, mich begeistern am meisten die Menschen und die Lebenssachverhalte, die dahinterstehen“, schwärmt sie. „Und natürlich das Beste rauszuholen. Das ist klar. Ich will, dass meine Klienten nachts beruhigt schlafen können, keine finanziellen Sorgen haben, gutes Geld verdienen und in gesundes Wachstum kommen. Dieser Antrieb steckt tief in mir.“

Die Offenheit und Neugierde anderen Menschen gegenüber und die Verbindung zur Natur sieht sie als tragfähigen inneren Boden, auf dem sie seit ihrer frühen Kindheit steht. Der schockierend plötzliche Tod des Vaters versetzte ihre Mutter in Angst, ob sie den Hof mit drei Mädchen halten könnte, ob es finanziell reichen würde, wie es weitergehen sollte – eine Angst, die als unterschwellige Stimmung wohl lange vorhanden war. Eine Angst, die auch viele Existenzgründer, Unternehmer und Selbstständige kennen. Bei Annette Blanche finden sie hierfür nicht nur Verständnis und ein offenes Ohr, sondern berühren, ob wissentlich oder unwissentlich, damit ihre ganz persönliche Lebenserfahrung und tief verwurzelte Motivation, hier Abhilfe zu schaffen. Sie weiß, wie sich Existenzangst anfühlt, und berät jedes Unternehmen, als wäre es ihr eigenes, mit Fachkompetenz, Humor und Verve. „Steuern sind schon ein komplexes und anspruchsvolles Thema, aber dies mit Leichtigkeit zu verbinden macht mir Vergnügen. Ich begleite die Unternehmen so, dass keine Existenzangst aufkommt, sondern sie auf einen guten Weg kommen und Vermögen aufbauen können“, ergänzt sie. „Betriebsprüfungen zu begleiten macht mir sehr viel Spaß. Ich kämpfe wie eine Löwin auf hohem Niveau.“ Sie strahlt siegessicher. „Das Ergebnis wird oft wie auf einem türkischen Bazar verhandelt: Man trifft sich immer in der Mitte.“

Ihre wichtigsten Werte? Wertschätzung, Toleranz, Freude. So führt sie auch ihre Mitarbeiter, schätzt jeden als Menschen, bestärkt sie in ihrem Potenzial und lobt gerne. Aus der Begleitung von Unternehmensnachfolgen weiß sie, wie wichtig es ist, früh genug loszulassen und Verantwortung zu übertragen. Mit Anfang Fünfzig hat sie die Übergabe ihrer Kanzlei fest im Blick. „Ich bin froh, dass ich Vanessa und meinen Schwiegersohn schon hier im Team habe. Mein Sohn ist gerade mal 18 geworden und – chillt den ganzen Tag“, amüsiert sie sich. „Steuern sind nicht sein Ding. Er hat ein gutes Sprachtalent, sein Opa hat sieben Sprachen gesprochen. Mal sehen, was er mal macht. Er muss das jetzt noch nicht wissen.“ In naher Zukunft möchte sie sehr viel mehr Arbeit abgeben, ihre Nachfolge vorbereiten, sich mehr um ihre kleine Enkelin kümmern. „Ich hab das Gefühl, bei mir kommt jetzt ein neuer Lebensabschnitt“, bringt sie es auf den Punkt. „Die Mitbegründung des Vereins Courage hoch Drei und einer weiteren Firma mit dem Thema Datenschutz, Freunde treffen, viel reisen, mit einer guten Freundin aus Cambridge den Jakobsweg wandern, Sport machen, Zeit für mich haben, die Hausprojekte … mir wird nicht langweilig.“

Mit Courage hoch Drei verbindet sie vor allem das Interesse an wahren Lebensgeschichten, die andere ermutigen können. „Aktuell herrscht extreme Angst. Erschreckend, wie in Grundrechte eingegriffen wird. Auf uns wird viel abgewälzt. Der Arbeitsmarkt verändert sich, aber es wird nach einer Rezession auch wieder einen Aufschwung geben. Es ist schon wichtig, dass wir reisen können und weltoffen sind“, sagt sie nachdenklich. „Auch mit meiner Geschichte will ich Mut machen, aus jeder Situation, die passiert, immer das Beste zu machen. Ich arbeite selbst sehr viel an meiner Persönlichkeitsentwicklung, habe immer sehr viele kreative und innovative Ideen. Am Ende ist das, was zählt und bleibt, was wirklich wichtig ist, das, was wir erlebt haben und uns gestärkt hat. Das hinterlassen wir, nicht das Materielle.“

Annette fragt mich, wie ich zum Schreiben von Porträts gekommen bin, hört interessiert und aufmerksam zu. „Toll. Du bist für Courage hoch Drei ganz wertvoll, ein Diamant für uns, um die Geschichten der Menschen zu schreiben. Du gibst auch Lesungen mit Klaviermusik? Klasse, das muss ich mit den anderen besprechen. Wir haben viel vor – Zeitschrift, Sendeplatz …“ Sie strahlt. „Das wird laufen, weil die Idee gut ist.“

Im Alter will sie im Rückblick auf ihr Leben sehen, dass sie immer den Mut hatte, etwas zu machen. Annette Blanche steht mittendrin – dankbar, stark, optimistisch.