Gedanken zum Wert Effektivität

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„Irgendwie kann ich froh sein, dass mir gekündigt wurde. Wenn ich diesen Job noch länger machen müsste, würde ich wirklich krank!“ Er nimmt einen Schluck Kaffee und sieht aus dem Fenster, an dem die Regentropfen abperlen. „Eigentlich wollte ich immer nach Israel, habe sogar Hebräisch gelernt. Und wofür? Seit Jahren sitze ich in einem dunklen Büro und starre auf Tabellen voller Zahlen. Fehlbuchungen finden, umbuchen, schnell sein, effektiv arbeiten. Was hat das mit mir zu tun? Damit ist jetzt Schluss! Aber wo soll ich hin?“

Gemeinsam halten wir Rückblick auf seinen bisherigen Werdegang, seine Wünsche, Vorlieben, Rollen, die Werte, die ihm wesentlich sind, Fähigkeiten, Talente und Dinge, die er gerne tut, auf alles, was seine Persönlichkeit charakterisiert. „Als Kind wollte ich Arzt werden. Ich mag es, Menschen zu helfen. Leider hat das nicht geklappt. Das Leben verschlägt einen woandershin, wissen Sie?“ Seine Stimme klingt brüchig, fast schwankend in der Intonation. Er wirkt nervös, steht unter Druck. „In meinem Alter noch mal ganz neu anfangen – geht das denn?“, fragt er sich.

Er braucht Zeit. Veränderung braucht Zeit. Entwicklung verläuft nicht effektiv, sondern gehorcht eigenen Rhythmen und Gesetzen. Ich höre zu, stelle Fragen, mache Angebote. Manchmal will er einfach nur reden, manchmal will er neue Impulse und Sichtweisen. Er fasst Vertrauen. In mich und in sich. Er wagt verrückte Ideen, gleicht sie mit seinem Leben ab, vergleicht Weiterbildungen, bewirbt sich lustlos auf vertrautes Terrain. Alles scheint zu stagnieren. Er hat Angst zu scheitern, im Alter den gewohnten Lebensstandard zu verlieren. Er möchte einmal stolz zurückblicken, etwas Wesentliches hinterlassen, seinen Teil beigetragen haben. Er sucht nach Zufriedenheit, Freude, Sinn.

Gegen Ende des Coachings tragen wir alles Erarbeitete zusammen: „Ich stelle mir vor, dass Menschen freiwillig zu mir kommen und ich ihnen helfen kann, ihre Situation zu verbessern. Ich kann gut beraten. Außerdem mag ich alles, was mit Sprache zu tun hat.“ Er strahlt, als er entdeckt, was er in Zukunft tun will: „Ich werde die Ausbildung zum Logopäden machen. Das ist es! Die Fächervielfalt in der Ausbildung – unglaublich! Das interessiert mich alles, nicht nur das Medizinische. Davon bringt mich niemand mehr ab. Ich will das einfach!“ Seine Augen blitzen. „Und wissen Sie was? Da kann ich mein eigenes Stimmproblem gleich mit bearbeiten. Aber vorher mache ich noch mal Urlaub in Israel.“

Einige Tage später erhalte ich mit der Post ein kleines Päckchen mit einer Dankeskarte und einer Kerze. Sie steht immer noch auf meinem Schreibtisch.

„Die Zeit ist unendlich lang und ein jeder Tag ein Gefäß, in das sich sehr viel eingießen läßt, wenn man es wirklich ausfüllen will.“ (Johann Wolfgang von Goethe)