Gedanken zum Lebenswert Eifer

Als sie die Tür öffnet, springt ihr Hund in den Hausflur, ein junger schwarzer Labrador. Sie pfeift ihn zurück und streckt mir abwartend die rechte Hand entgegen. Sie ist blind. Und sie schreibt eifrig an ihrer Biografie. „Ich möchte gerne Sehenden zeigen, wie ich die Welt wahrnehme. Können Sie mir bei meinem Buch helfen?“, fragt sie und bewegt sich mühelos durch die Wohnung in ihr Arbeitszimmer. Ihr Hund hat es sich inzwischen auf dem Sofa bequem gemacht und kaut an einem Schuh, den er im Flur stiebitzt hat. Sie hört es, gibt ihm ein anderes Spielzeug und stellt den Schuh an den Platz zurück, an dem sie ihn zu finden erwartet.

Sie nimmt Platz und sucht die Datei im Laptop, der, permanent sprechend und sich wieder unterbrechend, kundtut, in welchem Ordner welcher Inhalt abgelegt ist. Als junge Frau hatte sie gegen den Rat ihrer Eltern ganz allein ein Auslandsstudium gewagt, sich in völlig unvertrauter Umgebung auf ihre Weise langsam zu orientieren versucht. Sie hörte Gebäude, prägte sich Wege ein, erweiterte ihren Horizont mehr als jemals zuvor. Sie ist stolz auf das Erreichte. Heute unterrichtet sie andere.

Wir gehen spazieren, ihr Hund läuft frei. „Wenn ich alleine wäre, hätte ich meinen Stock mitgenommen. Jetzt kann ich mich bei Ihnen einhaken“, erklärt sie. Wir kommen an einer Wiese mit Obstbäumen vorbei, vom regennassen Boden steigt der Geruch nach süßlich faulenden Früchten auf. Der Hund bleibt zurück, verschwindet irgendwo, auch als wir laut seinen Namen rufen. Sie geht, unbesorgt plaudernd, mit mir weiter und erklärt mir den Weg zum Café. Während ich mir Sorgen mache, bleibt sie gelassen. „Er ist so verfressen. Das ist schon öfter passiert. Wenn wir wiederkommen, sitzt er wahrscheinlich vor der Haustür“, beruhigt sie mich. Den Kuchen isst sie mit der Hand, souverän, selbstverständlich.

Als wir wieder an ihrer Haustür stehen, bin ich enttäuscht, den Hund nicht zu sehen. Was, wenn ihm etwas passiert ist? Sie schließt auf und hört ihn schon. Ungeduldig mit dem Schwanz auf die Fliesen klopfend, harrt er vor der Wohnungstür im engen Hausflur aus, dreht sich vor Freude im Kreis. Jemand hat ihn hereingelassen. „Vielleicht werde ich ihn nicht behalten, wenn er sich mehr für faules Obst als für mich interessiert“, sagt sie. Ihren Hunden hat sie ein eigenes Kapitel in ihrem Buch gewidmet, ein Projekt, das sie unablässig vorantreibt. Sie hat etwas zu erzählen, nimmt uns mit in ihre Welt und gestaltet ein Werk.

Jeder hat etwas zu erzählen und gestaltet ein Werk: sein eigenes Lebenskunstwerk, eine eigene Schöpfung zwischen Schicksal und Freiheit.

„Eifer bedeutet, daß wir unsere Freiheit zu positivem und konstruktivem Handeln nutzen.“ (Dalai Lama)