Gedanken zum Wert Duldsamkeit

„Ich kann nicht zurückkommen, die Bahnen fahren nicht, weil der Hauptbahnhof gesperrt ist!“ Das Mädchen klingt aufgeregt, die Verbindung ist schlecht. „Danke, dass du uns informiert hast. Es kommt sicher gleich ein Ersatzbus“, versuche ich sie zu beruhigen, während mein Kollege im Internet recherchiert: „Da ist ein Attentäter mit einer Axt unterwegs und hat schon mehrere Menschen schwer verletzt. Großer Polizeieinsatz.“

Auf dem Nachhauseweg von meinem Brotjob biegt ein Kleinwagen in rasantem Tempo vor mir auf meine Spur, die Fahrerin trägt einen Kopfschleier, der nur schmale Augenschlitze freilässt. Ob sie mich wirklich gut sehen konnte, frage ich mich und denke darüber nach, wie es wäre, mit einem Menschen zu sprechen, dessen Gesichtszüge und Mimik ich nicht erkennen und lesen kann.

Am folgenden Tag wurde ein 80-Jähriger von einem Angreifer auf offener Straße mit der Machete attackiert. Am Tag darauf musste das Essener Einkaufszentrum am Limbeckerplatz geschlossen werden, da eine akute Bedrohung durch mehrere geplante Bombenattentate bestand. Dort kaufe ich regelmäßig vor meiner freiberuflichen Arbeit frisches Obst und einen Shake.

Der Frühling kommt, wir werden in Straßencafés sitzen, mit Freunden Café trinken, ein Eis genießen, Reisen planen und uns unseres Lebens nicht mehr sicher sein. Mir fehlen die Worte. Ich spüre, wie sie in mir aufsteigen und im Keim erstickt werden. So kann Sprache nicht blühen, so kann Rede nicht  frei erklingen. Wann waren wir zuletzt unbefangen, sprühend vor Lebenslust, unbeschwert und voller Leichtigkeit?

„Für die Bildung, wie ich sie verstehe und von Ihnen fordere, gibt es nur zwei Kennzeichen: ein gefühlsmäßiges: die Toleranz, die Duldsamkeit, und ein verstandesgemäßes: die Weltanschauung.“ (Dr. Paul Dahlke)

Bildung ist ein Wert für mich. Ich bilde mich mein Leben lang weiter und mache mir Gedanken über eigene und fremde Werte: Freiheit, Freundschaft, Verbundenheit, Glück, Menschlichkeit. Ich bin höchst qualifiziert, ein so genannter Portfolio-Worker, arbeite teils angestellt, teils freiberuflich, teils selbstständig, betreue Mädchen, die Schutz brauchen, coache ausländische Akademiker aus unterschiedlichsten Kulturen und Nationen mit mehr oder weniger guten Chancen und Sprachkenntnissen, die ihr Glück in einem neuen Job suchen, schreibe biografische Porträts für erfolgreiche Unternehmer, die sich als Mensch präsentieren und so mehr Vertrauen gewinnen wollen und gebe Kulturabende, an denen ich Klavier und Lesung zu einer thematischen Einheit verbinde, um einen Moment von Geborgenheit und glücklicher Erinnerung zu schaffen.

Es geht mir immer um das Menschliche, die persönliche Entwicklung, die Biografie, den Sinn, den wir unserem Leben geben. Ich teile, was ich weiß und kann: Kultur und Bildung. Und sehe doch mit wachsender Furcht: Jede Bildung braucht tiefe Herzensbildung, jede Weltanschauung benötigt wahrhaftige Erkenntnis des Menschseins. Jedes Fremde braucht zunächst geduldiges Verständnis, dann Akzeptanz des Verbindenden und respektvollen Konsens über das Trennende. Welche Werte können wir teilen? Welche Werte wollen wir schützen, pflegen und erhalten? Und gegen welche müssen wir uns gemeinsam aufs Schärfste verwahren, wir Europäer, wir Weltbürger, wir Menschen?

„Duldsamkeit gegenüber der Unduldsamkeit, das ist von allen Verbrechen das schlimmste.“ (Arthur Schnitzler)