Gedanken zum Wert Echtheit

„Stellen Sie sich mal ans Fenster. Sie sind so ein heller Typ, mit den kurzen Haaren erinnern Sie ein bisschen an Sharon Stone“, schlägt der Fotograf abschließend vor und macht noch ein paar Aufnahmen. Ich muss lachen. Er drückt auf den Auslöser. „Auf jeden Fall sind Sie jünger“, ergänzt die Visagistin, während sie ihre Utensilien einpackt. Die Assistentin des Fotografen nickt und hält den Reflektor noch einmal hoch.

Ich bin nicht reich und berühmt. Ich bin keine Schauspielerin, denke ich.

Seit einigen Jahren erzählen Unternehmer mir etwas aus ihrer Biografie und ihrem Business, und ich schreibe sehr gerne für sie aus dem Gehörten eine prägnante Porträt-Story, mit der sie sich auf ihrer Website präsentieren und so mehr Vertrauen bei potenziellen Kunden gewinnen. Andere möchten ein Porträt zum Unternehmens-Jubiläum, ein öffentlichkeitswirksames Buch über die gemeinsam geleistete Arbeit, mehr Wertschätzung ihrer Mitarbeiter oder ein biografisches Porträt für die Familie, um ganz privat die eigene Geschichte zu würdigen, Werte zu hinterlassen und etwas Bleibendes zu schenken.

Nach langem Zögern und etlichen Weiterbildungen bin ich ins kalte Wasser gesprungen: Seit einem Jahr erzählen mir hoch qualifizierte Fach- und Führungskräfte aus unterschiedlichsten Nationen ihre berufliche Geschichte, suchen Selbstreflexion, Neuorientierung, Bestätigung und einen Sparringspartner für Feedback. Ich coache mit großer Begeisterung zu Themen wie Integration von Werten und Kultur oder Leadership-Kommunikation. Einige präzisieren mit mir ihre Kommunikation, Konversation und ihren Fachwortschatz, wenn Deutsch nicht ihre Muttersprache ist, und feilen an aussagestarken Formulierungen für ihre Bewerbung. Andere wollen Ermutigung, um neue Wege zu wagen.

Immer geht es um die eigene unternehmerische oder berufliche Biografie in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Ich fühle mich reich beschenkt durch vielfältige interessante Begegnungen und Gespräche und den Einblick in Lebensentwürfe, Brüche, Krisen, Hoffnungen, Pläne, Ziele und Erfolge. Immer geht es um Entwicklung. Und etwas in uns bleibt, beobachtet die eigene Veränderung: kritisch, staunend, glücklich.

„So, fertig.“ Der Fotograf lächelt zufrieden. Die Assistentin lässt den Reflektor sinken. „Das gibt Muskeln.“ Sie zeigt auf ihre kräftigen Oberarme. In einigen Tagen werde ich die Fotos für meine neue Coaching-Homepage erhalten, die meinen Namen trägt. „Vielen Dank, dass Sie alle zu mir gekommen sind. Das war außergewöhnlich und hat mich sehr gefreut.“ Wir verabschieden uns.

Ich bin nicht reich und berühmt. Ich bin keine Schauspielerin, denke ich. Ich bin einfach ich. So gut ich kann.

Und kurz scheint es mir, als hörte ich das helle Kind in mir lachen.

„Höhepunkt des Glückes ist es,
wenn der Mensch bereit ist,
das zu sein, was er ist.“

(Erasmus von Rotterdam)